Brief an Myriam Pfeffer - 1996

Liebe Myriam,

wie Du weißt, beschäftige ich mich jetzt seit mehr als 20 Jahren mit der Frage nach  Zusammenhängen zwischen motorischer, emotionaler, sozialer und kognitiver Entwicklung.
Dabei ist es ja offensichtlich, dass diese Ebenen sehr unterschiedliche Bedeutung haben können, je nachdem in welchem individuellen Entwicklungsabschnitt und in welchem sozialen und kulturellen Kontext sich jemand befindet.

Diese Suche hat mich sowohl zur Feldenkrais- als auch zur Erickson-Arbeit geführt. Beide enthalten aus meiner Sicht ein Element, das sie von allen anderen Zugängen zur menschlichen Entwicklung, die ich kenne, unterscheidet:

Im Gegensatz zu allen anderen Ansätzen, die ich kenne, die grundsätzlich als Problem- oder Lösungsorientiert unterschieden und damit als Pole auf dem selben Kontinuum betrachtet werden können, ermöglichen diese beiden Zugänge eine grundsätzlich andere Betrachtung:
Jede Entwicklung, die ein Mensch macht, ist eine mögliche Antwort auf die Herausforderung sein (Über-)leben zu sichern. Der Punkt, an dem wir ihm begegnen, ist in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass seine individuellen Möglichkeiten sich in einer Sackgasse befinden.
Unsere Aufgabe besteht nun meines Erachtens darin, ihn ein Stück in seiner Entwicklung zurückzubegleiten bis an die Wegkreuzung, an der – meist unbewusst – die Entscheidung in Richtung der „Sackgasse“ fiel, in der er sich jetzt befindet.
Im Lichte der eigenen Lebenserfahrung entsteht nun die Möglichkeit sich neu zu entscheiden, einen Weg einzuschlagen, der den jetzigen Bedürfnissen ebenso wie der bisher gewonnenen Lebenserfahrung, Rechnung trägt.

Feldenkrais`Bewegungslernen bietet hier ebenso wie Ericksons Hypnotherapie – vielleicht sollte ich besser sagen: wie Ericksons Gebrauch von Sprache und Beziehung – eine Möglichkeit, unser unbewusstes Denken und Handeln von seinen bewussten  sowie unser bewusstes Denken und Handeln von seinen unbewussten Fesseln zu befreien.
Wo Moshé Feldenkrais mit Hilfe des Bewegungslernen weit über motorische Ziele hinausgreift, reicht Ericksons schwerpunktmäßig sprachlich [1] begründete Arbeit weit über das hinaus, was Psychotherapie gemeinhin beinhaltet.

Für mich persönlich hat sich im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr die inhaltliche Verknüpfung, im Sinne einer echten Integration von Bewegung und Kommunikation als zentrales Thema herauskristallisiert: Damit eröffnet sich ein enormes Potential, das zur Re-Konstruktion unserereigenen, sowohl grundsätzlich menschlichen wie auch individuellen, SELBST- Entwicklungsmöglichkeiten genutzt werden kann.

Besonders bedeutsam scheint mir diese Verknüpfung für die weitere Entwicklung der Feldenkraismethode von der Lern-  zur Lehr-Methode (s. weiter unten). Darauf möchte ich ein bisschen näher eingehen:
Den Geschmack eines Apfels muss man schmecken um ihn zu kennen“ – dieser Satz ist richtig, schließlich ist die sinnliche Erfahrung durch nichts zu ersetzen – und doch wäre damit noch keine spezifisch menschliche Stufe der Erfahrung beschrieben, wir teilen sie mit fast allen anderen Lebensformen auf unserem Planeten.
Den Geschmack eines Apfels und seinen Nutzen für unseren Organismus in für andere nachvollziehbaren Begriffen beschreiben können ist als Abstraktionsleistung eine andere Qualität. Sie kann zwar die sinnliche Erfahrung nicht ersetzen, weist aber gleichwohl darüber hinaus und muss, zumindest bezüglich des erreichten Niveaus, als spezifisch menschlich betrachtet werden.

Aus meiner Sicht bedeutet dies, dass zum spezifisch menschlichen Umgang mit sinnlicher Erfahrung auch die Bildung von – insbesondere sprachlichen – Begriffen und Symbolen gehört. Schließlich haben wir alle oft genug schon die Erfahrung gemacht, wie wichtig es sein kann, rein sprachlich etwas richtig „schmackhaft“ zu machen, gerade weil der andere aufgrund fehlender sinnlicher Erfahrung noch nicht wissen kann, was auf ihn zukommt.

Das eine, die sinnliche Erfahrung, ist wichtig für das Essen, das andere, die gesellschaftliche Begriffsbildung, ist wichtig für die Weitergabe unseres Wissens über Ernährung – damit kommt dem Schmecken eine ähnliche Bedeutung zu wie dem Bewegen in der Feldenkrais-Arbeit. Die sinnliche Erfahrung ist zwar hervorragend geeignet und wichtig für den Einstieg ins und die Annäherung ans Thema – wir (ge-)brauchen sie als Forschungsinstrument und -ebene zugleich – im Grunde genommen zielt der Lernprozess aber auf etwas anderes.

In diesem Sinne scheint es mir unverzichtbar beide Ebenen, die sinnliche Erfahrung wie die Ebene des Bewusstseins unserer Existenz, zu nutzen, um unsere Bewusstheit weiterzuentwickeln. Dann wird es möglich gleichermaßen das konkrete Handeln zur Verbesserung unserer Vorstellung und die Verfeinerung unserer Vorstellung zur Steigerung der Qualität unseres konkreten Handelns zu nutzen.
Ganz abgesehen davon, ist es für die Feldenkrais-Arbeit aber auch auf einer rein pragmatischen Ebene unverzichtbar – das gilt v.a. auch in Aus- und Fortbildungszusammenhängen – sich mehr mit den sprachlichen Aspekten unserer Arbeit zu beschäftigen:
Bewusstheit durch Bewegung“ unterrichten wir mittels Sprache – je nachdem, wie wir sie benutzen, fördern oder behindern wir den beabsichtigten Prozess:

Drücke beim Ausatmen Deine Lendenwirbelsäule stärker gegen den Boden.“

weckt andere Assoziationen als

 „Beobachte, wie sich die Lendenwirbelsäule von Atemzug zu Atemzug, mit

jedem Aus-Atem ein bisschen  mehr, dem Boden überlassen kann.“

Wenn wir auf Leichtigkeit in der Ausführung orientieren wollen, das macht dieses Beispiel deutlich, müssen wir schon wählerisch mit den Formulierungen umgehen. Durch die assoziative Kraft von Begriffen geht es hier ganz offensichtlich um  

Unterschiede, die Unterschiede machen“!

Das zeigt auch ein Blick auf Moshés Entwicklung, nachdem er die Arbeit von Erickson kennengelernt hatte: Verglichen mit den Alexander-Yanai-Lektionen sind die Amherst-ATM`s  schon ein deutlicher Fortschritt, obwohl auch letztere unter dem Aspekt Lernen ohne Anstrengung – oder sollte ich lieber schreiben: mit Leichtigkeit lernen – noch viel Raum für erhebliche Verbesserungen lassen.

Meines Erachtens gelten all diese Überlegungen auch für „Funktionale Integration“: „Nicht-Sprechen“ erhält seine Bedeutung erst durch das Vorhandensein von Sprachfähigkeit – als eine von zwei Möglichkeiten, die zur Wahl stehen, oder anders ausgedrückt: Wer was zu sagen weiß, kann auch bedeutungsvoll schweigen! Sonst wäre er einfach nur sprachlos.....

Während meiner Ausbildung war ich Zuschauer einer beeindruckenden FI. Am Ende, nach einer Stunde stiller und wunderbarer Kooperation, verabschiedete die Assistentin den „Schüler“ mit dem Satz: „Und bitte versuche jetzt ja nicht in deine alten Muster zurückzufallen, sonst wirst Du dieses schöne Geschenk ganz schnell wieder verlieren“.
Effektiver und nachhaltiger kann man sprachlich nicht zerstören, was man eben erst geduldig und mit so viel Feinfühligkeit aufgebaut hat.

Ich denke diese Beispiele machen deutlich, worin ich die überragende Bedeutung der Integration von Bewegungslernen mit der (Weiter-)Entwicklung differenzierterer kommunikativer Fähigkeiten für die Feldenkrais-Arbeit sehe:
Hier geht es um die grundsätzliche Frage, ob „Lernenlernen“ dasselbe ist, wie „Lehrenlernen“, und damit auch, ob die Ausbildungsstrategie in der Feldenkraismethode tatsächlich ausreicht, um „Lernenlehren“ oder gar „Lehren lehren“ zu können.

Moshé ging ja offensichtlich davon aus, dass derjenige, der das Lernen gelernt hat, auch Lernen lehren (als Practitioner/Feldenkraislehrer), möglicherweise sogar Lehren lehren (als Trainer) kann. (Dass dies nicht so ist, war ihm nach persönlichen Informationen von Personen, die mit ihm sehr vertraut waren, offensichtlich sehr wohl bewusst. Dass er es nicht geschafft hat, dies auch offen und öffentlich deutlich zu machen, ist mehr als nur bedauerlich).
Wie kurzschlüssig diese Annahme war, zeigt nicht zuletzt auch der geringe Anteil von bisherigen Absolventen von Trainings, der diese Arbeit tatsächlich zur Berufs- oder gar Lebensgrundlage machen konnte.

Diese Fragen haben mich während meiner ganzen Ausbildungszeit umgetrieben, inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es für die weitere Entwicklung der Feldenkrais-Methode unverzichtbar ist, Aus- und Fortbildungsangebote umfassend unter den Aspekt Lehren lernen zu stellen. Nur dann wird sie die großen Versprechen, die sie beinhaltet, auch einlösen können!
Der konsequente und bahnbrechende Schritt von der Lern- zur Lehrmethode steht nämlich bedauerlicherweise immer noch aus.

Der wichtigste Schlüssel für die konstruktive Weiterentwicklung der Ausbildung wie der Methode selbst ist aus meiner Sicht die Verbesserung sprachlicher wie nicht-sprachlicher Kommunikationsfähigkeit zur gezielten Förderung bewusster und unbewusster Prozesse und Entwicklungspotentiale. Psychologische und pädagogische Theorien können das tatsächliche Tun nicht ersetzen – hier gilt uneingeschränkt, was Moshé für die Entwicklung des Bewegungslernens postuliert hat.

Last not least“ spricht aus meiner  Sicht ein weiterer, fundamentaler Aspekt für den bewussteren Umgang mit Sprache in der Feldenkrais-Arbeit und zwar die Tatsache, dass die Entwicklung des spezifisch menschlichen Lern- und Sozialisationsweges und die Entwicklung der Sprache derselben Quelle entsprungen sind.

Phylogenetisch wie ontogenetisch gilt ja gleichermaßen, dass mit der Opponierbarkeit des Daumens eine exorbitante Ausweitung menschlicher Handlungs- und Lernmöglichkeiten einhergeht, die strukturelle Veränderungen und Erweiterungen des Gehirns ebenso beinhaltet, wie das wachsende Bedürfnis nach sprachlichem Austausch. Die Opponierbarkeit des Daumens und die Entwicklung von Sprache sind so in einem dialektischen Sinn untrennbar miteinander verbunden.

Unter diesem Blickwinkel lässt sich schon sagen, dass die Erweiterung der Möglichkeiten der Hand, das enorme Wachstum des Gehirns und die Erweiterung der sozialen Kommunikationsfähigkeit, sozusagen „Hand in Hand“, den evolutionären Sprung vom „Affen“ zum „Menschen“ bewirkt haben. Damit konnte er vom aufs unmittelbare Überleben orientierten „Teil“odergar „Objekt“ zum seiner Existenz bewussten und planenden „Subjekt“ der Geschichte dieses Planeten werden – mit allen bekannten Folgen.

Zum Schluss noch ein kleines Zitat, das meine Vorstellungen von Lehren auf den Nenner bringt und mit dem ich Dir gleichzeitig ein bisschen den Mund wässrig machen will für das Buch, das ich Dir mitschicke:

Weise Mütter lehrten,

dass alles Lehren kein Fässer-Abfüllen sei,

sondern ein Flammen-Entfachen

                                                           (Giselher)

[1] es gibt auch eine Reihe von Beispielen für höchst effektive nicht-sprachliche Elemente bzw. Trance-Induktionen von Milton Erickson